Opa Nils erzählt vom Sieg gegen Berlin

SCHWERTE. Die Holzpfosten Schwerte stehen im Finale der Deutschen Futsalmeisterschaft. Was am Samstag in eigener Halle beim 7:1 gegen Viktoria Berlin abging, ist unmöglich in gesprochene oder geschriebene Wort zu packen. Doch mit 41 Jahren Abstand gelingt das schon etwas besser. Wir schreiben Mittwoch, den 10. November 2055.

Nils Klems steigt immer mit einem Lächeln ins Auto, wenn er mittwochabends seine Enkel vom Training abholt. Das ist für den 67-Jährigen ein bisschen Tradition geworden. Als er am Platz ankommt, stehen seine zwei Enkelkinder, Tino und Lina Klems, schon bereit. Sie spielen in der Holzpfosten-F-Jugend und hatten gerade eine intensive Trainingseinheit. Heute steigen auch noch Joel Riesewieck und Marc Manz ins Klems-Auto. Nils, Florian und Oliver wechseln sich mit dem Abholen ihrer Liebsten immer ab.

Holzpfosten-Geschichten von Opa Nils

Nachdem Nils Joel und Marc nach Hause gebracht hat, fährt auch das Klems-Trio nach Hause. Heute dürfen Tino und Lina bei Opa Nils und Oma Lisette schlafen. Das lieben sie. Und vor allem die Holzpfosten-Geschichten, die Opa Nils immer erzählt. „So, ihr bringt jetzt noch eben ganz fix eure Sportklamotten in die Waschküche und dann gibt’s auch schon Essen. Okay?“, fragt Nils. Er hat gerade viel zu tun. Schließlich wird sein Verein morgen 50 Jahre alt. Seine Rede als Vorsitzender des Ehrenrates ist längst fertig. Aber es kitzelt trotzdem. Wie eigentlich an jedem Tag in den vergangenen 50 Jahren.

„Und? Wie war das Training?“, ist Oma Lisette neugierig, als sie gerade das Essen auftischt. „Voll super. Heute hat Umut (der E-Jugend-Trainer) für alle einen RIIIIEEESSEN-Holzpfosten-Kuchen gebacken“, schwärmt Lina. Als die vier mit dem leckeren Abendessen fertig sind, studiert Nils in seinem Sessel noch einmal die Rede. Morgen soll alles sitzen. Aber es sitzt alles. Da blickt Tino über die große Lehne des Sofas. Er hat gerade den Fernseher ausgeschaltet. Das macht er sonst nur widerständig.

Ein verknicktes, altes Foto

„Du, Opi? Darf ich dich mal was fragen?“ „Aber natürlich“, antwortet Nils und legt sein Skript auf die letzte Ausgabe der „05Freunde“. „Was gibt’s denn?“ Tino zückt ein Foto aus der Hosentasche und hält es Nils unter die Nase. „Guck mal“, sagt er. „Als ich vorhin meine Sachen in den Keller gebracht habe, ist mir das große rot-weiße Fotoalbum aus Versehen vom Schrank gefallen. Ich habe es natürlich wieder dort hingestellt. Aber das Foto hier ist rausgefallen.“ Nils nimmt das Foto in die Hand und legt seine Lesebrille weg. Sofort huscht ihm ein großes Grinsen übers Gesicht. Das Foto, etwas verknickt und vergilbt ist es mittlerweile, zeigt eine rot-weiße Mannschaft, die jubelnd ein übergroßes grünes Ticket in den Händen hält. Im Hintergrund ist eine Masse zu sehen, die auf der Tribüne frenetisch Fahnen und Schals in den Händen hält. „Warum seid ihr da so glücklich?“

Nils muss kurz schlucken. Dann aber richtet er sich leicht auf. „Nun, dann hör mal gut zu… Du weißt ja. Der Verein, in dem du spielst, ist kein ganz normaler. Als wir den zusammen vor 50 Jahren gegründet haben, ging es uns darum, einen Club für Freundschaft, Leidenschaft und Freude zu schaffen. Und du weißt auch, dass wir damals recht schnell Futsal gespielt haben.“

„Das war 2014, also vor 41 Jahren“

„Stimmt“, entgegnet Tino ihm sofort. „Das hat mir Onkel Pippo letzte Woche auf seinem 75. Geburtstag erzählt. Ich liebe Futsal.“

„Genau. Damals war Futsal aber noch nicht so bekannt wie heute. Das Schöne war: Wir haben immer oben mitgespielt. 2011 zum Beispiel waren wir eins der vierbesten Teams in Deutschland. Aber ich schweife etwas ab. Du willst ja wissen, welche Geschichte hinter diesem Foto steckt. Das war 2014, also vor 41 Jahren. Wir hatten uns eine Woche zuvor mit einem 3:2 ziemlich überraschend für das Halbfinale um die Deutsche Futsal-Mannschaft qualifiziert. Und das Schönste: Das fand hier bei uns in Schwerte statt.

Nun, jeder Holzpfosten hat sich unglaublich auf dieses Spiel gefreut. Die Karten waren damals nach 16 Minuten alle weg.“

„Boah. Dann war da doch bestimmt so viel los wie heute in der Kai-Kunsmann-Arena, wenn unsere Futsaler dort spielen. Oder?“, fragt Tino. Nils lacht: „Nein, nein. So viele waren es damals noch nicht. Aber um die 400 Zuschauer waren schon da. Viktoria Berlin war unser Gegner. Wir kannten die Berliner ja nicht. Damals konntest du die Futsal-Konferenz noch nicht im Fernsehen sehen, Tino. Naja: Jedenfalls war alles total aufregend. Halbfinale Zuhause? Wann erlebst du das schon mal? Aber ein Finaleinzug war ja vor dem Spiel noch soooo weit entfernt…“

Ein bisschen gerührt

„Wie ist das Spiel ausgegangen?“, will Tino wissen. Eigentlich ist er nach dem Training immer erschöpft, aber jetzt hüpft er fidel auf der Couch rum. „Moment, Moment“, lacht Nils und wirft nochmal einen Blick auf das Foto. „Opi?“, fragt Lina, die aus der Küche ins Wohnzimmer geschlichen kam, weil sie ohne TV-Geräusche misstrauisch geworden war, „warum weinst du denn?“

„Ach, Linchen, ich weine doch nicht, weil ich traurig bin. Ich bin nur ein bisschen gerührt“, sagt Nils, der sich eine Freudenträne wegwischt. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber er hatte eben auch lange nicht mehr in das große rot-weiße Fotoalbum geschaut. „Als das Spiel dann angepfiffen wurde“, fährt er fort, „haben wir erstmal gesehen, wie gut die Berliner waren. Aber wir waren an diesem Tag eben besser. Wir standen lange recht tief in unserer eigenen Hälfte, mussten mühevoll verteidigen. Nun: Unsere Angriffe saßen aber. Nach fünf Minuten führten wir 1:0, vor der Halbzeit gelangen uns dann zwei weitere Treffer. Wir haben uns quasi in einen Rausch gespielt…“

Sofort unterbricht Tino seinen Großvater: „Du meinst: in einen Flow!“ Verwundert und fragend schaut Nils seinen Enkel an. „Woher weißt du das?“ Tino erzählt lachend: „Das hat mir mal der Stephan erklärt.“ Stephan war sein Kumpel, Torwart der E-Jugend und Enkel von Futsal-Torwarttrainer Daniel Otto. „Genau, wir waren voll im Tore-Flow. Auch in der zweiten Hälfte. Denn die war noch besser als die erste. Ich habe ganz schnell das 4:0 gemacht. Und da waren die Berliner echt enttäuscht. Na klar, so ein 4:0 nach 22 Minuten – damit hatten weder wir noch die gerechnet. Die Stimmung war jedenfalls dann schon unglaublich. Wie eigentlich über die ganze Saison“, versucht Nils sich an jedes Detail zurückzuerinnern.

„Das ist doch Onkel Oppa“

Mittlerweile hatten sich Tino und Lina auf die Lehnen des Sessels gesetzt, um das Foto zu betrachten. „Da“, sagt Lina auf einmal und zeigt auf die Tribüne. „Das ist doch Onkel Oppa. Was macht der denn da?“

„Ich habe euch doch mal erzählt, was Onkel Oppa und die ganzen anderen da für uns gemacht haben. Die haben uns immer unterstützt, für uns gesungen. Ohne die wären wir bestimmt gar nicht so weit gekommen. Irgendwann, kurz nachdem wir drei weitere Tore geschossen hatten, stand die ganze Halle. ‚Steht auf, wenn ihr Schwerter seid‘ wurde da gesungen. Oder auch: ‚Schwerte ist viel schöner als Berlin‘.“

Nils entwickelte gerade unheimlichen Spaß, die Erinnerungen zu verbalisieren und wollte gerade weiter ausholen, als Lisette, angelehnt am Türrahmen, ihn unterbricht: „Nils, bringst du die beiden bitte ins Bett? Morgen müssen wir alle fit sein.“

„Sofort, mein Schatz, sofort. Ich bin ja gleich fertig“, sagt Nils verständlich. „Nun: Die Berliner erzielten zwar noch ein Tor, aber das war ja dann auch egal. Als das Spiel vorbei war, guckten wir uns alle ungläubig an. Damit hatten wir nun wirklich nicht gerechnet. Vom Fernsehen waren ganz, ganz viele Kameras da, die die Party nach dem Spiel natürlich auch aufnahmen. Wir feierten mit unseren Fans eine halbe Stunde lang. Unglaublich. Onkel Oppa sang so laut, dass der gar keine Stimme mehr hatte. Das war wirklich ein unvergessliches Erlebnis.

„Wir waren eben Holzpfosten“

Abends haben wir dann mit allen Holzpfosten weiter gefeiert. Es wurde gesungen, gelacht und auch getanzt. Schließlich waren wir ja ins Finale eingezogen. Ich habe euch ja vorhin erzählt, warum wir unseren Verein damals gegründet haben. Spaß, Leidenschaft, Freunde. All das erlebten wir. Und an solchen Tagen, wie der auf dem Bild, wurde das natürlich nochmal deutlicher. Es war nicht wichtig, ob du unten auf dem Feld standest und ein Tor gemacht hast, oder ob du auf der Tribüne warst und gesungen hast. Wir waren eins. Wir waren eben Holzpfosten.“ Nils macht eine kurze Pause. Eigentlich könnte er noch viel mehr von diesem 22. März 2014 erzählen, aber auch er dachte an morgen und die 50-Jahrfeier seiner Holzpfosten in der Kai-Kunsmann-Arena. Er wirft einen letzten Blick auf das leicht verknickte Jubelbild und sagt: „So, Kinder, jetzt geht’s aber ab in die Federn.“

Normalerweise melden sich Tino und Lina jetzt mit unverständlichen Minen und protestierenden Gegenargumenten. Aber heute nicht. Sie sind wieder einmal begeistert von der Holzpfosten-Geschichte ihres Opas. Und lachen. Als Nils Lina gerade Huckepack nimmt und aus dem Sessel steigen will, fällt Tino noch etwas auf. Hinter dem Foto, das die drei sich die ganze Zeit angeschaut hatten, war noch ein anderes. Es klebte an der Rückseite und war Nils gar nicht aufgefallen. „Opi“, sagt Tino aufgeregt. „Da ist noch ein Foto. Guck mal.“ Verwundert setzt Nils Lina wieder ab und fällt zurück in seinen Sessel. Er nimmt das Foto in die Hand und trennt beide Bilder voneinander. „Boaaaaaah“, sagen Tino und Lina unisono und ungläubig, als sie das andere Foto sehen.

Ein anderes Mal…

Es zeigt wieder eine Jubelszene. Diesmal aber irgendwie noch ein bisschen anders als auf dem Foto davor. Eigentlich ist alles gleich: Die Mannschaft jubelte überschwänglich, die Fans, diesmal waren es noch mehr, hatten noch mehr Fahnen in der Hand und jeder zweite Holzpfosten wischte sich Freudentränen aus den Augen. Aber eine Kleinigkeit war anders: Nun hielt Opa Nils nämlich kein übergroßes grünes Ticket in den Händen, sondern eine große, silberglänzende Schale. „Was hast du in der Hand? Und warum seid ihr da alle so glücklich“, fragt Lina verwundert. Nils legt das Foto zurück auf den Tisch und lacht diesmal noch ein wenig mehr. „Das, meine Lieben, erzähle ich euch ein anderes Mal…“

Danke an: Daniel Otto, Florian Riesewieck (1), Nils Klems (2), Kai Kunsmann, Oliver Manz, Joel Ahrens, Marc Nebgen (2), Tino Ruggio (1), Patrick Kulinski (1), Stephan Kleine, Phillip Oldenburg.

Das Spiel von damals im Video:

Viele Fotos, ein Interview mit Teamchef Otto, ein Video von der Feier nach dem Abpfiff und einen Spielbericht gibt es bei den Ruhr Nachrichten.