HALBFINALE, HALBFINALE, HEY, HEY!

SCHWERTE. Vor drei Wochen noch haben wir alle ganz laut „VIIIIIIIEEEERTELFINALE“ geschrien. Wir Dilettanten. Nach einem Wochenende, 500 km weit von Zuhause weg, und einem 3:2-Sieg gegen Hohenstein-Ernstthal dürfen wir nämlich nun folgenden, viel schöneren Schlachtruf herausschreien: HAAAAALBFINALE.

Es gibt Sachen im Leben, die lassen sich schwierig in geschriebene Worte fassen. Man kann von diesen Sachen erzählen. Man kann sie mit den schönsten Adjektiven und detailgenauer Beschreibung schmücken. Man kann die Worte mit Gestik und Mimik komplettieren. Man kann sie aber doch irgendwie nicht ganz rüberbringen.

So etwas erlebten am Samstag 40 Holzpfosten auf der Tribüne und 14 auf dem Feld. Wir sind Halbfinalisten. Haben aber schon jetzt ein Wochenende erlebt, das wir auf ewig in unsere Gehirnregion namens „Besonders wertvolle Geschichten für meine Enkelkinder“ speichern werden. Versuchen wir, das Erlebte zumindest halbwegs echt rüberzubringen.

Freitag, 14.15 Uhr: Am Schwerter Bahnhof treffen sich acht Futsaler. Sie spielen beim Verein Holzpfosten Schwerte und haben sich vor drei Wochen für das Viertelfinale der Deutschen Futsalmeisterschaft qualifiziert. Nun dürfen sie nach Sachsen fahren. Hotel in Chemnitz? Vom DFB gesponsert. #sachsencalling

Samstag, 10 Uhr: Am Schwerter Bahnhof treffen sich rund 20 Fans. Sie sind Fans des Vereins Holzpfosten Schwerte und reisen überall mit hin. 500 Kilometer sind für sie eine Zahl. Kein Hindernis. Es kribbelt in der Magengegend. Um 10.27 Uhr ist Abfahrt. Ziel: Hohenstein-Ernstthal. Ziel 2.0: Halbfinale.

10.30 Uhr: Nun fahren auch alle anderen Fans aus allen anderen Regionen des Bundeslandes los. Am Ende des Tages werden rund 40 Holzpfosten-Fans ihre Stimme auf der nach Bier riechenden Tribüne in Hohenstein-Ernstthal suchen.

12 Uhr: Warm-Up. Die Mannschaft lockert ihre Muskeln für das Spiel um 18.30 Uhr auf. In einer Halle, die früher wohl mal ein Gefängnis war. Oder eine Folterkammer. Oder beides.

15.30 Uhr: Via WhatsApp verständigen sich die Fans aller zwölf Autos und Busse darauf, noch Bundesliga zu gucken. „Zur Kanone“ heißt die auserkorene Kneipe. Sie hat zu, berichten die ersten Ankömmlinge. Die WhatsApp-Gruppe heißt „Viertelfinale“. In der Nacht zum Sonntag wird der Titel geändert.

16.30 Uhr: Drei A-Jugendliche und JP sind die ersten an der schmucken Halle in Karl Mays Geburtsstadt. Sie kaufen sich Tickets. Essen Bockwurst. Und trinken Bier. Ihnen wird der Holzpfosten-Block gezeigt. Noch ein Ort der Stille. Noch ein Ort der Träume. Zwei Stunden später wird er ein Ort der Eskalation. Drei Stunden später ein Ort der wahrgewordenen Träume.

17.10 Uhr: Die Mannschaft kommt in die Halle und kickt spaßeshalber ein paar Bälle durch die Halle. Ihre Nervosität kaschieren sie durch lockerlässiges Lächeln. Nur einem gelingt es nicht: Unserem Mister. Jenem Spieler, der den Futsal-Ball behutsamer behandelt als eine Mutter ihr Neugeborenes.

17.30 Uhr: Die Halle füllt sich. Draußen stehen Security-Männer und –Frauen, die in ihrer Anzahl eine ganze Futsal-Mannschaft stellen könnten. Man wird beim Eintreten abgetastet wie in Deutschlands Fußball-Stadien. Drinnen trifft sich eine Delegation aus DFB-Männern, Schiedsrichtern und Vereinsvorsitzenden.

17.45 Uhr: Alle Holzpfosten-Fans sind da. Mit dabei: Ein Vater, der zufällig aus dem Sachsen-Örtchen kommt, dessen Sohn aber in Dortmund studiert und seit vier Wochen für die „Amateure“ spielt. Er hat seine Frau mitgebracht. Und trägt ein Holzpfosten-Shirt.

18.15 Uhr: 15 minutes left. Die Fahnen sind gespannt. Der Block ist komprimiert. Die Legendenchoreo wird eingeprobt. Noch zwei Stunden, dann sind Klems, Kleine und Otto in Hohenstein-Ernstthal bekannter als Elvis und Homer Simpson.

18.27 Uhr: Die Mannschaften laufen hochprofessionell ein. Die Stimme des Hallensprechers ist nur ein stiller Unterleger der Holzpfosten-Gesänge. Noch nie waren sie so laut wie an diesem Tag. Noch nie.

18.29 Uhr: Kämpfen bis zum Ende, werdet zur Legende. Auf geht’s Pfosten Schwerte, schießt ein Tor.

18.31 Uhr: Los geht’s. Ohhhh, die Holzpfosten, kommen aus Schwerte. Und eskalieren. Wir werden heute gewinnen, ganz egal was auch passiert. Wir müssen lauter singen, damit ihr niemals verliert.

Heute wird jede Liedstrophe zur Motivation. Zur Motivation, die nächste lauter zu singen. Und wenn man still ist, dann nur, weil man mit offenem Mund da steht und Zanda anguckt. Dem Mann, der jeden Elefanten mit einem leise gesungenen „Schlaf, Kindlein, schlaf“ umhauen würde.

Circa 18.41 Uhr: Hohenstein-Ernstthal schießt sein erstes Tor. Bitter: Bis dahin waren wir besser. Etwas überraschend, wie die meisten finden. 13 Sekunden dauert das Schockstarrchen. Danach haut Zanda einen raus: „Erst kam der Baum…“

18.43 Uhr: „… DANN DAS LEBENSWERK.“ Coke, der Mann, der Bruce Willis mit seinem Auftreten Fingernägel kauen lassen würde, kriegt einen Ball quergelegt. Dann sorgt ein ausgestreckter rechter Fuß, von dem der kleine Ball ins Tor tropft, dafür, einen Block zum lautesten der Welt zu machen. Der Jubelschrei übertönt alles. 1:1.

Circa 18.59 Uhr: Kurz vor dem Halbzeitpfiff geht der VfL in Führung. Nach einer Ecke zieht der Torwart ab und findet den Weg ins Tor. Nein, so verlieren wir nicht. Darüber besteht Konsens.

Halbzeit: 15 Minuten durchatmen. Jonas Becker, der Mann, der für die Tribüne wertvoller ist als Silikon für Daniela Katzenberger, kapituliert. Natürlich nicht wirklich. Aber er sagt: „Ich kann nicht mehr.“ Tatsächlich kommt aus seinem Hals noch ein wenig Luft, die Töne sind schwer zu entziffern. Eine Viertelstunde später geht das Spiel weiter. Jonas schreit weiter.

19.16 Uhr: 13 Sekunden nach dem Wiederanpfiff wird Coke gefoult. Sechsmeter. Klems läuft an. Verschießt. Wie ein Tritt in die Eier fühlt sich das an. Wie ein Tritt in die Eier von Zanda.

19.19 Uhr: Auf der anderen Seite bekommt Hohenstein-Ernstthal ebenfalls einen Sechsmeter. David Graudejus, jener Mann, der Alles-Held, foulte. Dann füllt er sein kleines Törchen so aus, dass man Angst bekommt. Hohenstein-Ernstthal verschießt. Der Block rastet aus. Tim Steinhauer flüstert: „Jetzt können wir das nur gewinnen.“ Er macht eine kurze Pause. Danach sagt er den Satz noch einmal. Entschlossener als beim ersten Mal. So, dass man es ihm glaubt.

19.26 Uhr: Acht Minuten noch. Auf einmal sieht der Klemser eine Lücke. Generell: Wir waren nun besser. Klar: Der VfL, mit sehr starken Individualspielern besetzt, hatte auch gute Gelegenheiten. Aber sie wirkten immer ein wenig bedröppelt. Von der Holzpfosten-Kraft. Vom Holzpfosten-Willen. Vom Holzpfosten-Flow. Auf und vor den Tribünen. Wo war ich? Ach ja: Der Klemser sieht eine Lücke. Flow läuft mit und hat auf einmal das leere Tor vor sich. Fuß hinhalten. Ausgleich.

19.30 Uhr: Schon sehr zufrieden werden die Supporter immer lauter. Entgegen des Rates der eigenen Stimmbänder. „Hör auf, wir können nicht mehr“, scheinen sie jedem der dort anwesenden Fans zuzuflüstern. „Halt’s Maul“, schreien wir ihnen entgegen. Holzpfosten spielt ja.

19.34 Uhr: Es sind noch 2 Minuten und 16 Sekunden zu spielen. Wir rechnen mit einer Verlängerung. Als plötzlich ein hoher Ball zu Kleine kommt, der sieben Meter vor dem Tor an der rechten Auslinie steht. Nun beginnt das, wofür man im Fernseher eine Slow-Motion braucht. Wir nicht. Bei uns wird die Realität gerade zur Zeitlupe. Stellt euch das vor: Der Ball fliegt auf Kleine zu. Man sieht: Joa, der könnte gut passen. Kleine setzt zum Schuss an. Er trifft den Ball. Nun gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten: Entweder er trifft ihn wie ein Kreuzbandgeschädigter Cricketspieler. Oder er trifft ihn richtig und haut das Dingen in die Decke des HOT-Sportzentrums. Oder er trifft ihn richtig, lässt ihn ticken und von dort ins Tor gehen. Stephan entscheidet sich für letzteres. 3:2. Im Block steht nur noch die Trommel. Noch nie wollten 40 teils gestandene Hoolzpfosten so gerne heute Nacht mit Stephan Kleine schlafen. Es war Stephans erstes Saisontor.

19.38 Uhr: Abpfiff. Platzsturm.

23.46 Uhr: 25 Holzpfosten sind im FlowerPower. Ein Gang aufs Klo? Unmöglich. Ungelogen: Von jenem Chemnitzer wird man gefragt, zu was man gehört. Zu was man jubelt. Zu was man feiert. Für jeden nehmen wir uns die Zeit, das zu erzählen, was eigentlich gar nicht erzählbar ist. Stolz präsentieren wir denen dazu unser Halbfinalticket.

Montag, 14 Uhr: Rund vier Stunden, nachdem bei Facebook die Halbfinalveranstaltung für Samstag erstellt wurde, haben 134 Leute zugesagt. Sie wollen wohl auch etwas erleben, für das es eigentlich keine Worte gibt. Sondern nur Augen. Einzigartige Holzpfosten-Augen.

Unsere Legenden: David Graudejus, Daniel Otto, Nils Klems, Marc Nebgen (1), Martin Baumdick, Tino Ruggio, Patrick Kulinski, Florian Riesewieck (1), Stephan Kleine (1), Sebastian Wolf, Umut Coban, Joel Ahrens, Oliver Manz, Phillip Oldenburg.